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Was ist an SGB II verfassungswidrig?
Die Bundesrepublik ist ein Verfassungsstaat. Das bedeutet unter anderem, dass sich jedes so genannte "einfache Gesetz", das im Rang unter der Verfassung (Grundgesetz) steht, an deren Vorgaben messen lassen muss.
Das Sozialgesetzbuch (SGB) II steht als einfaches Gesetzrecht unter der Verfassung. Damit muss es sich ebenfalls am Grundgesetz (GG) orientieren.
Fraglich ist, ob das SGB II den Ansprüchen des Grundgesetzes genügt.
Im Einzelnen:
1. Das SBG II ermächtigt über die §§ 13, 27 das Bundesfinanz- und das Bundeswirtschaftsministerium, zwei gemeinsame Rechtsverordnungen zu schaffen. In diesen Rechtsverordnungen wird festgelegt, welcher Arbeitslose überhaupt zum Kreis der hilfebedürftigen Arbeitslosen zählen wird (§ 13) und welche Leistungen im Einzelnen diesem Kreis zugute kommen werden.
In der Praxis werden die kreisfreien Kommunen und Landkreise (§§ 6,7) die Rolle der sog. Leistungsträger übernehmen. Diese öffentlichen Hände müssen nun in ihrer täglichen Verwaltungspraxis die vorgenannten Rechtsverordnungen der beiden Bundesministerien vollziehen, d.h. anwenden.
Diese für den rechtsunkundigen Leser völlig unauffälligen Regelungen sind aber verfassungsrechtlich ausgesprochen bedenklich. Die Rechtsprechung des Bundesverfassungsgerichtes (BVferG) zum Artikel 84 GG sagt nämlich, dass der Bund keineswegs in die Organisationsgewalt der Bundesländer eingreifen darf, indem er quasi über deren Köpfe hinweg den Kommunen und Landkreisen rechtliche Anordnungen erteilt und sie am Vollzug seiner Bundesgesetze beteiligt. Dies darf allenfalls in eng begrenzten Ausnahmefällen stattfinden. Ob im vorliegenden Fall eine solche Ausnahme gegeben ist, dürfte zumindestens strittig sein.
2. Die nach §§ 13, 27 SGB II noch zu schaffenden Rechtsverordnungen (RVO) stehen im Rang sowohl unter dem Gesetz, also dem SGB II als auch der Verfassung (Grundgesetz).
Zum besseren Verständnis: Das deutsche innerstaatliche Recht kennt vier Ebenen von unten nach oben: Satzungsrecht, Verordnungsrecht, (einfaches) Gesetzesrecht, Verfassungsrecht. Satzungs- und Verordnungsrecht müssen sich in seiner Ausformung am Gesetzesrecht, dieses wiederum Verfassungsrecht orientieren.
Artikel 80 GG verlangt, dass ein einfaches Gesetz, auf dem eine RVO fußt, diese RVO nach Inhalt, Zweck und Ausmaß bestimmen muss. Hier spielt nach der Rechtsprechung des Bundesverfassungerichtes unter anderem die sog. Vorhersehbarkeitsformel für den rechtsunterworfenen Bürger eine gewichtige Rolle. Je einschneidender die nachfolgende RVO für den Bürger ist, desto präziser müssen vorher die Aussagen des Gesetzes zur RVO gefasst sein.
Weder § 13 noch § 27 SGB II genügen diesen Anforderungen des Artikel 80 GG. In beiden Fällen überlässt der Bundesgesetzgeber das Feld weitgehend unbestimmt dem Verordnungsgeber (den beiden Bundesministerien).
3. Ein weiteres Problem stellt § 15 Absatz 1 Satz 1 Nr. 1 und 2 SGB II dar. Diese Vorschrift regelt das Zustandekommen der sog. Eingliederungsvereinbarung zwischen dem hilfebedürftigen Arbeitsuchenden (Antragstellers) und der Behörde. Geregelt werden soll hier im Einzelfall einerseits der Umfang der Hilfeleistungen und andererseits die Eigenbemühungen des Antragstellers wieder Arbeit zu finden.
Kommt zwischen Antragsteller und Behörde diese Eingliederungsvereinbarung nicht zustande, tritt an deren Stelle ein befehlender Verwaltungsakt, den die Behörde erlässt. Das ergibt sich aus § 15 Absatz 1 Satz 6 SGB II. Außerdem werden die Hilfeleistungen massiv abgesenkt. Selbst die nachträgliche Zustimmung des Antragstellers zur getroffenen Regelung hebt die Rechtsfolgen nicht mehr auf.
Das, was für den Antragsteller in der Praxis ein Ärgernis darstellen kann, ist verfassungsrechtlich jedenfalls problematisch. Diese Verwirklichung des Prinzips von Zuckerbrot und Peitsche dürfte einen Verstoß gegen den ungeschriebenen Verfassungsgrundsatz der Verhältnismäßigkeit darstellen , der alles staatliche Handeln zu durchziehen hat. Außerdem dürfte mit hoher Wahrscheinlichkeit das Menschenwürdeprinzip (Art. 1 GG) verletzt sein. Das BverG hat schon früh entschieden, dass staatliche Ziele keinen Eigenwert aufweisen, sondern dem Bürger zu dienen haben. Die Menschenwürde ist jedenfalls dann verletzt, wenn der Grundrechtsträger zum bloßen Gegenstand eines Verfahrens gemacht wird.
4. Außerdem dürfte § 15 SGB II noch an anderer Stelle gegen die Verfassung verstoßen. Die sog. Eingliederungsvereinbarung fußt auf dem Übereinkommen von Antragsteller und Behörde. Sie stellt daher einen Vertrag dar und keinen Verwaltungsakt. Ein Vertrag setzt Vertragsfreiheit voraus, also die Möglichkeit des Handelnden Ja oder Nein zu sagen. Diese Vertragsfreiheit ist ein Unterfall der sog. allgemeinen Handlungsfreiheit nach Artikel 2 GG.
Kommt die Eingliederungsvereinbarung nicht zustande und wird sie deshalb von der Behörde durch einen befehlenden Verwaltungsakt ersetzt, kann von Vertragsfreiheit nicht mehr die Rede sein. Denn der Antragsteller wird einer für ihn auch ungünstigen Eingliederungsvereinbarung zustimmen, um den weitergehenden Sanktionen auszuweichen, die § 15 SGB II für ihn im Falle seiner Weigerung bereithält. Besonders bedenklich wird der Fall, wenn § 15 Absatz 3 SGB II einbezogen wird. Hier wird der Umfang der Schadensersatzpflicht geregelt, die den Antragsteller trifft, wenn er eine Bildungsmaßnahme schuldhaft abbricht. Auch diese Schadensersatzpflicht wird Teil der Eingliederungsmaßnahme.
Es bleibt festzuhalten, dass § 15 SGB II auch gegen Artikel 2 GG verstößt.
5. Ein weiterer Problempunkt: § 5 Absatz 2 SGB II sagt, dass Antragsteller, die bereits Leistungen nach SGB II erhalten, grundsätzlich keine weiteren Hilfeleistungen mehr nach SGB XII beanspruchen können, wenn einmal von der Übernahme von Mietschulden (§ 22 Absatz 5) abgesehen wird.
Für die Praxis heißt dies, dass unzureichende Hilfeleistungen nach SGB II nicht durch ergänzende Leistungen über SGB XII ausgeglichen werden. Dieser Abmarsch vieler Leistungsempfänger in das wirtschaftliche und soziale "Aus" kollidiert klar mit dem Menschenwürde- und dem Sozialstaatssprinzip (Art. 1, 20 GG).
6. Widerspruch und Anfechtungsklage des Antragstellers gegen einen versagenden Leistungsbescheid haben nach § 39 SGB II keine aufschiebende Wirkung. Das bedeutet, dass der Antragsteller solange keine Leistungen nach SGB II erhält, bis entweder ein abhelfender Widerspruchsbescheid oder ein obsiegendes Endurteil ergeht. Da der Antragsteller nach dem Willen des Gesetzgebers aber auch keine Leistungen nach SGB XII erhält, bleibt er mittellos.
Auch diese Regelung verstößt gegen das Sozialstaatsprinzip.
Ein Fazit lässt sich bereits ziehen: Vor dem Bundesverfassungsgericht dürfte dieses SGB II einen ausgesprochen schweren Stand haben. Es bleibt abzuwarten und zu hoffen, das dieses Gesetz einer verfassungsrichterlichen Prüfung unterzogen wird.
Dieses SGB II steht in einer Abfolge von Bundesgesetzen seit 1998, die sich durch drei Gemeinsamkeiten auszeichnen: Handwerklich unsauber gemacht, verfassungsrechtlich bedenklich, inhaltlich häufig unklar.



Quelle: http://www.beamte4u.de/sgbii.html
Eingereicht von arm am 04.01.2005